Weißer Ring, Caritas, namhafte Rechtsexperten und Kinderpsychiater erneuern sechs zentrale Forderungen nach massiven Reformen im Jugendstrafvollzug. „Es ist höchst an der Zeit, den Jugendgerichtshof wieder einzuführen und die U-Haft bei Jugendlichen abzuschaffen.“
Seit Anfang dieser Woche ist klar: Dass es sich bei dem Missbrauch eines 14-Jährigen in der Justizanstalt Josefstadt um einen tragischen Einzelfall gehandelt hat, kann ausgeschlossen werden. Mittlerweile sind drei weitere Fälle dokumentiert. „Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher sein“, sagt Udo Jesionek, oberster Opferschützer des Landes und Obmann des Weißen Rings. „Mit der derzeitigen Situation des Jugendstrafvollzugs sind Fälle wie dieser leider vorprogrammiert. Die Zustände im Jugendvollzug sind unhaltbar. Es ist nur zu offen, dass die Politik und vor allem das Justizresort nun künftig diesem wichtigen Problemkreis eine höhere Priorität zuordnet.“
Gemeinsam mit Caritasdirektor Michael Landau, Kinderpsychiater Ernst Berger, der Strafverteidigerin Alexia Stuefer und Bezirksrichter Oliver Scheiber schloss sich Jesionek vor knapp zehn Tagen spontan zur „Allianz gegen Gleichgültigkeit“ zusammen. Eine Allianz, die sich nach Bekanntwerden des Missbrauchsfalls in der Justizanstalt Josefstadt für drängende Reformen im Jugendrecht und im Jugendstrafvollzug einsetzt. „Jeder dieser Fälle ist tragisch und zu tiefst zu bedauern“, sagt Caritasdirektor Michael Landau. „Das System des Jugendstrafvollzugs ist unterfinanziert und ausgehungert. Gefängnisse mögen keine Paradiese sein; doch Gefängnisse dürfen auch nicht zu Orten verkommen, in denen psychische, physische und sexuelle Gewalt als lästige, aber letztlich nicht vermeidbare Unfälle hingenommen werden“, hält Landau fest. „Es ist höchst an der Zeit, den Jugendgerichtshof wieder einzuführen und die U-Haft bei Jugendlichen abzuschaffen.“
Oliver Scheiber, Vorstand des Bezirksgerichts Meidling, betont: „Bereits im Vorjahr haben sowohl die Volksanwaltschaft als auch das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte auf gröbere Missstände im Strafvollzug aufmerksam gemacht. Diese Expertise muss jetzt genutzt werden, um den österreichischen Strafvollzug menschenwürdiger zu gestalten. Wir brauchen mehr Sensibilität und Empathie, und letztlich werden auch Personalauswahl, Aus- und Fortbildung zu überdenken sein. Außerdem sollten weitere Opfer kontaktiert, betreut und entschädigt werden."
„Das muss der Vergangenheit angehören“
Alexia Stuefer, Generalsekretärin der Vereinigung der österreichischen StrafverteidigerInnen, schlägt in eine ähnliche Kerbe: „Die weiteren Enthüllungen legen schwerwiegende strukturelle Mängel im Jugendstrafvollzug offen. Von ‚mehreren Einzelfällen‘ zu sprechen, ist vor dem Hintergrund einer viel höheren Dunkelziffer nicht tragbar.“ Stuefer ist überzeugt: „Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Jugendliche gehören nicht ins Gefängnis! Internationalen Beispielen folgend kann die Haft in betreuten Wohneinheiten eventuell in Verbindung mit elektronischer Überwachung ebenso gut vollzogen werden. Einsperren von Jugendlichen hat der Vergangenheit anzugehören!“
Kinderpsychiater und Universitätsprofessor Ernst Berger macht auf den notorischen Geldmangel im Strafvollzug aufmerksam: „Die Haftbereiche junger Menschen – Untersuchungs- und Strafhaft – leiden besonders unter Personalmangel und einem Mangel an spezifischer fachlicher Ausbildung. Gerade bei jungen Menschen gilt, dass Strafe kein Selbstzweck ist, sondern der sozialen Reintegration dienen muss. Die interdisziplinäre Kooperation der Justiz mit Sozialpädagogik und Sozialtherapie ist dafür unbedingt erforderlich.
Die spontan geschmiedete „Allianz gegen Gleichgültigkeit“ begrüßt zwar die ersten Schritte, die seitens des Justizministeriums bereits gesetzt wurden (Zweierbelegung in der JA Josefstadt, Beschränkung der Einschlusszeiten und Installierung einer Taskforce), doch klar ist für die Proponenten auch: Die österreichische Bundesregierung ist spätestens nach Bekanntwerden der weiteren Vorfälle dringend zum Handeln aufgerufen. Konkret fordern die Mitglieder der Allianz nun nachstehende Reformen:
1.) Die Wiedererrichtung eines Jugendgerichtshofs in Wien und Schaffung von Jugendkompetenzzentren in den Ballungsräumen
Der internationale Vergleich zeigt, dass der Trend in Richtung von Spezialgerichtshöfen für Jugend- und Familienrecht geht. Die Schaffung von Jugendkompetenzzentren in den großen Ballungsräumen samt Schaffung eines, neuen modernen Jugendgerichts für Wien ermöglicht große Qualitätssteigerungen. 2003 haben sich deutlich über 80% der Wiener RichterInnen und Richter gegen die Schließung des Jugendgerichtshofs ausgesprochen - die zuletzt bekannt gewordenen Missstände sind letztlich eine Folge der geringeren Aufmerksamkeit, die jugendlichen Straftätern zuteil wird.
2.) Umsetzung von Alternativen zur Untersuchungshaft bei Jugendlichen
Länder wie Schweden, die Schweiz oder Italien leben seit Jahren sehr gut mit alternativen Modellen zur Untersuchungshaft. Die Unterbringung in Wohngemeinschaften, Krisenstellen und bei Pflegeeltern hat sich dort bewährt. Sie vermeidet es, dass jugendliche Verdächtige traumatisiert und
durch das Zusammentreffen mit tatsächlich schwerer kriminellen jugendlichen und erwachsenen Häftlingen endgültig abrutschen. Österreich hat eine geringe Kriminalität und wenige jugendliche Häftlinge - Alternativen zur Untersuchungshaft könnten also sehr schnell umgesetzt werden und der
finanzielle Aufwand dafür ist sehr überschaubar.
3.) Verstärkter Einsatz von PädagogInnen, TherapeutInnen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen in den Justizanstalten
Die Zahl der im Strafvollzug eingesetzten PädagogInnen, TherpautInnen, PsycholgInnen und SozialarbeiterInnen nimmt laufend ab. Auf eine Psycholgin oder Sozialarbeiterinnen kommt häufig eine dreistellige Zahl von Häftlingen. Die Allianz fordert daher eine Aufstockung im Bereich der SozialarbeiterInnen, der PädagogInnen und der PsychologInnen.
4.) Ausreichende Personalausstattung zur Verringerung der Einschlusszeiten und Ausbau der Beschäftigungs- und Ausbildungsmöglichkeiten
Es müssen umgehend gesetzliche Regelungen der maximalen Einschlusszeiten geschaffen und effizient überwacht werden. Dasselbe gilt für notwendige Beschäftigungsmöglichkeiten.
5.) freiwillige gemeinnützige Arbeit als Ersatz der kurzen Freiheitsstrafe (bis zu 6 Monaten)
Kürzere Freiheitsstrafen reißen Häftlinge aus ihrer Lebenswelt und haben nach Studien keinen sinnvollen erzieherischen Wert. Sie sollten ausländischen Beispielen folgend durch freiwillige geminnützige Arbeiten vermieden werden können.
6.) Ausbau der Besuchsmöglichkeiten
Aus Personalmangel haben Untersuchungs- und Strafhäftlinge in Österreich nur wenige Besuchsmöglichkeiten. Dadurch reisst der Kontakt zur Familie ab, Beziehungen zerbrechen. Die Besuchsregelungen müssten gesetzlich massiv ausgeweitet werden.