„Unterm Radar“: Groß angelegte Studie von Caritas und SORA zeigt massive Armutssituation und macht Reformbedarf deutlich

Rund 200.000 Menschen gelten in Österreich als stark armutsbetroffen. Befragung in Wien und NÖ zeigt Lebensrealität und macht Solidarität deutlich. Schwertner: „Sozialhilfe Neu sieht in der Krise alt aus.“

Wien – Laut jüngsten Daten der Statistik Austria gelten in Österreich aktuell 201.000 Menschen als besonders stark von Armut betroffen – um 40.000 Personen mehr als noch im Jahr zuvor. „Wir weisen als Hilfsorganisation seit längerem darauf hin, dass sich der Druck auf armutsbetroffene Menschen massiv erhöht hat. Zuerst die Pandemie, dann die Rekordinflation und schließlich die Teuerungen von Lebensmitteln, Energie und Mieten“, sagt Klaus Schwertner, Caritasdirektor der Erzdiözese Wien. Gemeinsam mit Günther Ogris vom Sozialforschungsinstitut SORA präsentierte Schwertner am Donnerstag die Ergebnisse der Studie „Unterm Radar“, bei der 400 Klient*innen der Caritas Sozialberatung in Wien und Niederösterreich interviewt wurden. „Unser Ansatz war: SORA hat die Expertise und wir haben den Zugang zu Menschen, die in herkömmlichen Befragungen nicht repräsentativ vertreten sind. Mit der Befragung ‚Unterm Radar‘ stellen wir den Anspruch, das Thema Armut ein Stück weit neu zu vermessen und daraus abgeleitet auch Reformvorschläge für die Politik zu machen. Die Ergebnisse sind erschreckend und wer noch einen Beweis gebraucht hat, dass akuter politischer Handlungsbedarf besteht: Mit dieser Studie liegt dieser Beweis nun schwarz auf weiß vor.“ Günther Ogris von SORA: „Diese Studie gibt uns in einer Art und Weise Einblicke in die Lebensrealität von armutsbetroffenen Menschen, wie dies bei anderen Studien – etwa bei EU-SILC – nicht im selben Ausmaß der Fall ist. Dort, wo bisher ein weißer Fleck auf der empirischen Landkarte vorherrschte, gibt es nun sehr detaillierte Ergebnisse zur Lebenssituation von armutsbetroffenen Menschen.“ Über einen Zeitraum von mehreren Monaten (Dezember 22 bis März 23) wurden 400 Personen aus Wien und NÖ zu Armutsfragen interviewt – also auch, nachdem sie unterschiedlichste Soforthilfen von Bund und Ländern in Anspruch nehmen konnten. Unter den Befragten finden sich Mindestpensionist*innen ebenso wie junge Menschen, Mehrkindfamilien und Alleinerziehende, Menschen ohne Job und solche, die so wenig verdienen, dass sie zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen sind. Schwertner: „Die Befragten stehen stellvertretend für 201.000 Menschen in ganz Österreich, die als erheblich materiell und sozial depriviert gelten. Wir reden nicht von Einzelfällen.“

Teuerungen erhöhen Druck dramatisch. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick

8 von 10 Klient*innen leiden den Ergebnissen zufolge unter erheblicher materieller und sozialer Deprivation. Schwertner: „Knapp 70 Prozent der Hilfesuchenden hätte nie gedacht, je auf unsere Unterstützung angewiesen zu sein. Und mehr als die Hälfte der Befragten ist überzeugt, dass sie langfristig Hilfe braucht.“ 94 Prozent der Befragten können sich darüber hinaus keine regelmäßigen Freizeitaktivitäten leisten. Mehr als 85 Prozent der Befragten mussten sich angesichts der Inflation verschulden oder sind auf finanzielle Hilfe angewiesen.

76 Prozent müssen auf vollwertige Mahlzeiten verzichten. Und 73 Prozent können ihre Wohnung nicht warmhalten, 70 Prozent können abgenutzte Kleidung nicht ersetzen. Ogris: „Acht von zehn Personen geben an, dass sie nicht wüssten, wie sie ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen über die Runden kommen sollten. Und auffällig ist auch: Der Anteil der Alleinerziehenden unter den Befragten ist mit 25 Prozent besonders hoch.“

Große Solidarität: Bevölkerungsmehrheit für Langfrist- statt Einmalhilfen

Überrascht zeigten sich Caritas und SORA von der Tatsache, dass die Wünsche, die Betroffene an die Politik richten, mit jenen der breiten Bevölkerung Hand in Hand gehen. Ogris: „Wir haben die Ergebnisse dieser Befragung mit einer Bevölkerungsumfrage (1.000 Befragte) vom Oktober verglichen und gesehen: Die Wünsche und Forderungen an die Politik sind da wie dort gleich stark ausgeprägt. Es herrscht eine große Einigkeit darüber, dass Hilfe zuallererst jenen zugutekommen muss, die armutsbetroffen sind – dem stimmen 94 bzw. 89 Prozent der Befragten zu. Einig sind sich die Befragten auch darin, dass strukturelle und langfristige Hilfen besser wären als Einmalzahlungen (94 bzw. 83 Prozent). Und 91 bzw. 81 Prozent der Befragten sprechen sich etwa für eine Erhöhung der Mindestsicherung aus.“

„Sozialhilfe Neu sieht in der Krise alt aus“ - Caritas fordert Reform

Schwertner nutzte die Gelegenheit, um auch auf notwendige Reformen im Sozialbereich hinzuweisen. „Ja, es ist richtig und zu begrüßen, dass Bund und Länder in den vergangenen Jahren zahlreiche Hilfen auf den Weg gebracht haben. Aber das Prinzip Gießkanne und die Tatsache, dass diese Hilfen nicht langfristig und oft sehr spät erfolgen, führen dazu, dass immer mehr Menschen weder vor noch zurückkönnen.“ Die Caritas erneuert ihre Forderung nach einer Reform der Sozialhilfe Neu. „Die Abschaffung der Mindestsicherung durch die Vorgängerregierung hat sich in der Krise bitter gerächt. Es muss wieder darum gehen, Mindeststandards zu sichern und Menschen ein Leben ohne tägliche Existenzängste zu ermöglichen. Es braucht bedarfsorientierte Kinderrichtsätze und ein Verbot der Anrechnung anderer Sozialleistungen, wie etwa der Familienbeihilfe.“ Auch Arbeitslosengeld und Notstandshilfe wurden im Zuge der Teuerungen nicht valorisiert. „Wir fordern, dass die ausständige Inflationsanpassung dieser Leistungen inklusive Familienzuschlägen schnellstmöglich nachgeholt und die gescheiterte Arbeitsmarktreform wieder auf den Weg gebracht wird.“ Darüber hinaus spricht sich die Caritas auch für nachhaltige Lösungen im Bereich Wohnen und Energie aus. Viele der gesetzten Maßnahmen, wie etwa die Strompreisbreme oder die Aufstockung des Wohn- und Heizkostenzuschusses laufen aus. Ein möglicher Schritt wäre die Schaffung eines Energiearmutsgesetzes, einer bundesweiten gesetzlichen Grundlage zu Unterstützung armutsbetroffener Haushalte mit dafür zur Verfügung gestellten Mitteln.“

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